Das Kainszeichen - Geschichte einer Vergewaltigung

Carl E. Ricé

TRIGGERWARNUNG: Das Hören dieses Hörbuchs kann bei Menschen, die Opfer sexueller Gewalt wurden oder im sozialen respektive familiären Umfeld damit konfrontiert waren, Erinnerungen hervorrufen, die lange verdrängt wurden. Wenn das Hörbuch bei Ihnen psychische Reaktionen auslöst, die Sie überfordern, suchen Sie bitte umgehend professionelle Hilfe auf. Autor und Mitwirkende übernehmen keine Haftung für Folgen, die aus dem Anhören dieses Hörbuchs resultieren. „Das Kainszeichen“ von Carl E. Ricé ist ein literarisch-dramatisches Kunstwerk, konzipiert für die Aufführung durch den Verfasser selbst in Form einer Erzählperformance. Dieser „Geschichte einer Vergewaltigung“ liegen reale Missbrauchserfahrungen des Autors zugrunde. Auch seine Hauptfigur – die im Text sowohl in der Ich-Form als auch unter dem Namen Pierre auftritt – erleidet verschiedene Formen des Missbrauchs: psychischer Missbrauch durch die Mutter, häusliche Gewalt seitens des Stiefvaters und sexueller Missbrauch durch einen älteren Nachbarsjungen (der sich später als uneheliches Kind des Stiefvaters herausstellen sollte). Auch die mangelnde Unterstützung durch Schule und Sozialbehörden sowie die aus der Traumatisierung resultierenden Drogen- und Prostitutionserfahrungen sind Themen der Erzählung. Es handelt sich um die Geschichte einer Traumatisierung, die ein ganzes Leben lang ihre Folgeverletzungen erzeugt und relativ empfindlich macht. „Das Kainszeichen“ greift all diese Aspekte einer Missbrauchsbiografie auf. Deshalb kann man den Text als „erweitertes Soziogramm“ einer Missbrauchsfamilie in literarischer Form bezeichnen. Die Dramaturgie des Textes bildet jedoch keine linear-chronologische Erzählung. Stattdessen werfen einzelne, sprachlich verdichtete Szenen Schlaglichter auf die Erfahrungen des Protagonisten. Aufgrund dieser Struktur können einzelne Szenen leicht herausgegriffen werden und beispielsweise als Impulse zum Einstieg in Gesprächsgruppen genutzt werden. Die nachfolgende kommentierte Inhaltsübersicht dient dazu, die einzelnen Szenen des Hörbuchs schnell bestimmten Themenkomplexen zuordnen zu können. Überschriften in Klammern (auf der CD-Hülle kursiv gesetzt) markieren dabei Szenen, die dem traumartigen Erzählstrang zuzuordnen sind. Überschriften ohne Klammern (auf der CD-Hülle gerade gesetzt) markieren den konkret-realistischen Erzählstrang. In der Biografie des Autors überschneiden sich also Erfahrungen von psychischer Gewalt und emotionaler Vernachlässigung, von nicht sexualisierter häuslicher Gewalt und von sexuellem Missbrauch. Mit einzelnen Szenen aus dem Text können aber diese drei Themenkomplexe auch einzeln bearbeitet werden. Bei Szenen, die eindeutig einem der beiden Themenbereiche zugeordnet werden können, ist dies mit einem entsprechenden Schlagwort neben der Überschrift vermerkt. Jedes System baut sich seiner eigenen Logik folgend auf. In diesem familiären System überlagern sich mehrere Formen von Missbrauch und verstärken sich in ihrer traumatischen Wirkung gegenseitig, wie mehrere Windhosen sich zum Orkan verstärken. Der auf das Kind projizierte Hass der Mutter auf den Kindsvater; das Aufgenommen-, aber nicht Angenommenwerden des Kindes in der Stieffamilie, die es bei allem, was es tut, abwertet; die Erwachsenen, die sich ihrer Brutalität gegenüber dem Kind nicht bewusst, aber sehr sicher sind – diese Voraussetzungen machen das Kind anfällig für den sexuellen Missbrauch durch einen Täter, der selbst zum erweiterten familiären System gehört. Es mag ein extremer Fall sein, aber er ist so passiert. Damit zeigt er auf, dass so etwas möglich ist – und unterstreicht nachdrücklich, wie wichtig Prävention ist.

Alle Folgen

Episode 33: In memoriam Wolfgang

Dieser Epilog in Gedichtform ist dem Schriftsteller Wolfgang Borchert gewidmet und hat genau dadurch eine programmatische Funktion für „Das Kainszeichen“. Auf Borchert bezieht sich der Autor als literarischen Wahlverwandten, als „großen Bruder“. Der aus Hamburg stammende Wolfgang Borchert (1921-1947) starb 1947, also in dem Jahr, in dem der Autor in Hamburg geboren wurde. Der Grund für Borcherts frühen Tod waren seine Kriegsverletzungen, Thema seines Werkes sind vor allem die Zerstörungen, die der Krieg als umfassende Gewalterfahrung auch in den Menschen anrichtet. In „Das Kainszeichen“ erscheint die Gesellschaft als ähnlich umfassende Gewaltstruktur, etwa in Episode 24. Der Stiefvater in „Das Kainszeichen“ ist jener von Krieg und Gewalt geprägten Generation zuzurechnen. Die Erfahrungen mit Vergewaltigung und Prostitution beschreibt das Gedicht als den „Krieg der Straße“. Wie Borchert den Zweiten Weltkrieg überlebte (oder eben gerade nicht, weil er an dessen Folgen starb), so ist der Erzähler von „Das Kainszeichen“ ein Überlebender der strukturelle Gewalt unserer Gesellschaft in einem extremen Fall, wie es auch der Arzt in der vorhergehenden Episode 32 formuliert hat. Als literarisches Vorbild hat es Borchert auch dem Autor von „Das Kainszeichen“ ermöglicht, über seine Gewalterfahrungen zu sprechen. Die Tabuisierung der vielfach in der Gesellschaft vorhandenen Gewaltstrukturen aufzubrechen, den Opfern zuzuhören, erscheint als Voraussetzung, um diesen Strukturen entgegenzuwirken.

Episode 33: In memoriam Wolfgang

Episode 32: Pierre saß dem Arzt gegenüber

Diese Episode bildet zusammen mit Episode 1 die Klammer um den gesamten Text. Pierre sitzt in der Einrichtung mit den 30 Betten dem Arzt gegenüber und beendet seinen Lebensbericht, der dem Arzt die Tränen in die Augen getrieben hat. Der Arzt weist darauf hin, dass Pierre durch eine Überdosis Drogen oder Suizid schon längst tot sein könnte, Pierre also ein Überlebender ist.

Episode 32: Pierre saß dem Arzt gegenüber

Episode 31: (Wieder wacht er auf)

Hier auf der Meta-Ebene befindet sich Pierre nach dem Aufwachen in dem Dorf aus Episode 3. Die Häuser lösen sich in wurm- und schlangenartige Formen auf, die ihn in die Mitte des Dorfes treiben, wo das Kreuz mit den Namen aller Heiligen steht. Dort auf dem Dorfplatz ist eine Grube voller Schlangen wie Penisse. Neben der Schlangengrube steht seine Mutter, die auch einen endlos langen Schlangenpenis hat, der auf Pierre zukriecht, ihm um den Hals fasst und ihn würgt. Bevor er das Bewusstsein verliert, merkt Pierre, wie er in die Schlangenpenisgrube fällt. In Episode 10 hatte bereits das Kind auf seiner Zeichnung den Penis des Vergewaltigers und den Prügelriemen des Stiefvaters in ein schlangenartiges Bild gebracht.

Episode 31: (Wieder wacht er auf)

Episode 30: (Die Hand aus der Wolke)

Auf der Meta-Ebene liegt Pierre in einem weiteren Alptraum auf einer Wiese. Plötzlich verdunkelt sich der Himmel zu einem Unwetter. Pierre weiß, dass dies das Jüngste Gericht ist. Er will Schutz suchen, doch da greift aus den Wolken ein riesiger Arm nach ihm und er hört die Stimme seiner Mutter. Der Arm greift in seinen Kopf und holt die Bilder heraus. Die überwachende Mutter kennt nun seine tabuisierten „schmutzigen“ Erfahrungen, die er versucht hat, geheim zu halten, das Verschweigen-Müssen hat nicht funktioniert, so total ist die Kontrolle durch die Mutter. „Pierre krümmt sich wie ein Fötus am Boden: Er wird nie frei sein. Sie wird ihn nie, nie freilassen.“ Und wieder weckt Rübezahl Pierre auf: „Du kannst hier nicht mehr bleiben. Du darfst hier nicht mehr bleiben“, was als Hinweis darauf gelesen werden kann, dass er ihn aus einem geschützten therapeutischen Setting zurück 'ins Leben' schicken will.

Episode 30: (Die Hand aus der Wolke)

Episode 29: (Alle Atome seines Körpers)

Auf der Meta-Ebene durchlebt Pierre eine Episode, die sich erst am Ende – wenn Rübezahl ihn erneut aufweckt und zum Fortgehen auffordert – als Alptraum herausstellt. Pierre (nach seiner Flucht) schläft in seinem Zimmer, als es an der Tür klingelt. Zwei Männer stehen draußen, die ihm vage bekannt vorkommen. (Man kann davon ausgehen, dass sie den Vergewaltiger aus der Kindheit und den Stiefvater repräsentieren.) Sie zwingen ihn, eine Droge zu nehmen, und vergewaltigen ihn. Währenddessen erlebt Pierre die extremste Form der Dissoziation vom eigenen Körper. Er hat das Gefühl, dass sein Körper in kleinste Einzelteile zerfällt, die sich im Weltall verteilen. Bevor Rübezahl ihn weckt, sagt einer der beiden Täter zu ihm, dass er ihnen nie entkommen wird.

Episode 29: (Alle Atome seines Körpers)

Episode 28: (Es ist Krieg)

Pierre erwacht im Wald. Es muss die Stelle sein, wo er sich am Abend in den Dornen verfangen hatte. Alle Geschehnisse, die bisher auf der Meta-Ebene passiert sind, könnten also Alpträume gewesen sein. Doch jetzt stellt er fest: Es ist Krieg. Kampfflugzeuge greifen an und Soldaten verfolgen ihn in einen Keller. Pierre macht sich so klein wie eine Laus und versteckt sich in einer Mauerritze, sodass die Soldaten ihn nicht erschießen können. Und wieder schüttelt ihn jemand an der Schulter und die Stimme von Rübezahl sagt: „Wach auf, du musst fort von hier!“

Episode 28: (Es ist Krieg)

Episode 27: (Ich bin doch deine Mutter)

Auf der Meta-Ebene befindet sich Pierre auf dem Dachboden von dem Haus, in das Rübezahl ihn gebracht hat. Er wacht auf und sieht neben sich eine alte Frau. Er kennt sie nicht, sie aber behauptet, sie sei seine Mutter. Voller Ekel flüchtet er aus dem Haus, doch die Häuser lösen sich auf und kreisen ihn ein, fesseln ihn. Er hat Angst, für immer in diesem Alptraum gefangen zu sein. Da schüttelt ihn jemand an der Schulter und die Stimme von Rübezahl sagt: „Wach auf, du musst fort von hier!“

Episode 27: (Ich bin doch deine Mutter)

Episode 26: Wie immer auf der Straße

Der Ich-Erzähler setzt hier die Gewalt in der elterlichen Wohnung in Bezug zu seinen Erfahrungen mit Drogen und Prostitution. „Jeder Platz auf der Straße ist sicherer als zu Hause. … Mich erwartet kein Zuhause, mich erwartet nur eine Behausung.“ Er habe „die Fähigkeit, ein Zuhause zu haben“, verloren. Suizidale Tendenz und Todessehnsucht sprechen sich in dem Satz aus: „Der einzige Ort, wo das Leben noch erträglich zu sein scheint, ist die Hölle selbst.“ Diese Hölle findet der Ich-Erzähler in den Darkrooms von Schwulenbars, „denn dort, im Gemenge anonymer Körper, konnte ich alles wiederholen, was das Leben mich gelehrt hatte“. Die Frage von Hetero-, Bi- oder Homosexualität spielet dabei keine Rolle, der Ich-Erzähler sieht hier einen krankhaften Wiederholungszwang am Werk - „so krank, wie nur einer sein kann, für den Liebe nur Schmerz – Weltuntergang – und Sexualität Rausch und Strafe zugleich ist.“ Ekel und Scham sind stets gegenwärtig, vor allem wiederholt sich beim Hinausgehen aus den Bars wieder das von der Vergewaltigung im Keller (vgl. Episode 5) her bekannte Gefühl, das Kainszeichen als für alle sichtbares Stigma zu tragen.

Episode 26: Wie immer auf der Straße

Episode 25: Brief an eine Mutter

Hier wendet sich der Ich-Erzähler in der Du-Form an seine Mutter. Er nennt Beispiele für die Demütigung durch körperliche und emotionale Gewalt, vor allem auch massive emotionale Erpressung, beispielsweise dass sich die Mutter vor dem 12-Jährigen anlässlich von dessen Wunsch, ins Heim zu ziehen, um der häuslichen Gewalt zu entgehen, schreiend auf dem Boden wälzte und schrie: „Wenn du gehst, dann gehst du für immer“. Dies festigte die Kontrolle der Mutter über den Sohn, denn: „Ich hatte Angst, etwas zu verlieren, das ich nie hatte: deine Liebe.“ Kontrolle, gerade auch über die „heile“ Außenwirkung ihrer Familie, war für die Mutter von zentraler Bedeutung. Für die Dualität der Realitäten, die der Ich-Erzähler aushalten musste, wird daher hier wesentlich die Mutter verantwortlich gemacht: „Was Wahrheit war, bestimmtest du. So spaltete ich mein Leben in Wahrheit und Wirklichkeit. Meine Wirklichkeit: der Keller, die Drogen, der Alkohol, der Strich. Das alles verdrängte ich, um für dich eine Wahrheit zu leben, eine Wahrheit zu spielen, die in dein Leben passte.“ Wie verinnerlicht das Schuldgefühl und die Scham ist, dem Anspruch der Mutter nicht zu genügen, zeigt sich an dem Satz: „Ich kann dir nicht verzeihen, denn ich brauche immer noch all meine Kraft, um mir selber zu verzeihen, dass ich lebe.“ Dies führt aber auch zu einer Positionierung des Erzählers gegen die therapeutische Forderung nach Verzeihen: „Man lehrt uns, zu verzeihen. Warum aber soll ich verzeihen? Warum sollen die Opfer den Tätern verzeihen? Ist dies nicht die zynische Forderung einer Gesellschaft, die es nicht ertragen könnte, mit ihrer eigenen Gewalt und Doppelmoral konfrontiert zu werden?“

Episode 25: Brief an eine Mutter

Episode 24: Nein, es gab kein einziges Mal

Diese Episode schließt in Bezug auf die Themen Drogen und Prostitution an die vorige an. „Nein, es gab kein einziges Mal, an dem es nicht wahnsinnig weh getan hätte, gevögelt zu werden. Nur Stoff machte es erträglich.“ In dieser Szene steht die extreme körperliche Gewalt der Freier gegen den Ich-Erzähler im Mittelpunkt. Einer der Freier sagt ihm, wenn er mit ihm fertig sei, werde er nie wieder eine Frau anschauen. In diesem Moment leuchtet eine rote Leuchtschrift in seinem Kopf auf „Nie mehr vergessen“ - obwohl da eigentlich „Notausgang“ stehen sollte, aber da ist nur Mauer. Dissoziation vom eigenen Körper und Scham kulminieren in dem Gedanken: „Ich bin kein Junge mehr und ich werde nie ein Mann sein, denn ich bin nur noch eine kleine, dreckige Hure.“

Episode 24: Nein, es gab kein einziges Mal

Episode 23: Keine Erinnerung

Diese Episode schließt an die vorige an und erzählt den Einstieg des Ich-Erzählers in die Prostitution weiter. Er bietet nun seinen gesamten Körper pädophilen Männern auf dem Kinderstrich an. Dies wird sozusagen als die Vollendung der Dissoziation vom eigenen Körper dargestellt, die durch die Missbrauchserfahrungen entstanden ist: „Mein Körper hatte mich mittlerweile längst verraten. Eros ist davongeflogen, und Geld zu bekommen für das, was sich andere sonst mit Gewalt von mir nahmen, machte mich zumindest begehrt, interessant.“ Die Drogen verstärken die emotionale Achterbahnfahrt zwischen Todesangst und Todessehnsucht. Ekel, Wut und Hass bestimmen die Gefühle des Ich-Erzählers, der nun zwecks Geldbeschaffung seine Freier auch bestiehlt oder erpresst.

Episode 23: Keine Erinnerung

Episode 22: Wieder den ganzen Tag rumgetrieben

Die Szene schließt direkt an die vorige an. Der Ich-Erzähler war wegen seiner inneren Unruhe und Angst den ganzen Tag auf der Straße und hat auf der Brücke stehend überlegt, ob er seiner suizidalen Tendenz folgend hinunterspringen soll. Er denkt daran, dass er auf dem Heimweg auf dem „Babystrich“ im Park noch „irgendeinem Typen einen runterlutschen, danach kotzen“ wird. Es wird zwar die „schnelle Mark“ (für Drogen) als Anlass für die Prostitution genannt. Jedoch vermittelt die Episode den Eindruck, dass es sich – ähnlich wie bei der Selbstverletzung, die in Episode 2 erwähnt wird – auch um eine Art inneren Zwang handelt. „Innerer Zwang“ ist hier mitnichten so zu verstehen, dass eine Freiwilligkeit vorliegt. Vielmehr ist es gerade als Folge der ursprünglichen Traumatisierung zu sehen, dass Sexualität nur in einer extrem entfremdeten Form gelebt werden kann – eine „Normalität“ ist nicht möglich.

Episode 22: Wieder den ganzen Tag rumgetrieben

Episode 21: Brennen, ein Ball von Glut ist in mir

„Gibt es ein Ende für die Geschichte einer Vergewaltigung?“ In dieser Episode wird geschildert, wie der Ich-Erzähler, jetzt ein Jugendlicher oder junger Mann, im Drogen- und Prostitutionsmilieu verkehrt. Diese Lebensweise „auf der Straße“ wird in Bezug gesetzt zu seinem Weglaufen vor der Gewalt des Stiefvaters in der Kindheit und auch seiner inneren Unruhe und Angst in Szene 2, vor der er unter Menschen flüchten muss: „Eigentlich habe ich immer auf der Straße gelebt. … Die Straße ist ein Zuhause, das nirgends ist und daher überall.“ Er selbst konsumiert Kokain; in der Szene wird geschildert, wie er sich das Geld dafür mit einem „Schau-Fick“ mit einer Prostituierten vor alten Voyeuren verdient. Das Angeblicktwerden in einem intimen Moment aktualisiert die Themen von Scham und Stigma, die in der bisherigen Biografie vorgeprägt wurden.

Episode 21: Brennen, ein Ball von Glut ist in mir

Episode 20: (Auf beiden Seiten neben Pierre)

Auf der Meta-Ebene setzt sich die Geschichte von Episode 14 fort. Die Wächter bringen Pierre an einen Bootssteg und übergeben ihn Klabautermann, dem Kapitän eines dort ankernden Schiffes. Pierre muss nun auf dem Schiff neben vielen anderen als Rudersklave dienen. Nachdem ihn die schweißige Nacktheit unter den Sklaven zunächst abstößt, findet er sich allmählich mit diesem Los ab, dass er nun eben Sklave sei. (Das Bild der nackten Sklaven verweist darauf voraus, dass Pierres nächster Lebensabschnitt infolge der traumatischen Kindheitserfahrung von Drogen und – dadurch bedingt – Prostitution geprägt sein wird.) Eines Tages kommt Neptun – er wird wie Klabautermann als Heiliger bezeichnet –, an Bord des Schiffes, um die gesamte Besatzung zu taufen. Er tauft sie aber nicht einzeln, sondern mit einem Feuerwehrschlauch. Der Druck des Wasserstrahls spült Pierre über Bord. Da er gefesselt ist, sinkt er in die Tiefe und sieht dabei, durchs Wasser gebrochen, noch einmal die Bilder seiner Kindheit. Hände ziehen ihn bis auf den Grund des Meeres, wo er die Fratze des dritten Heiligen erkennt: Wotan.

Episode 20: (Auf beiden Seiten neben Pierre)

Episode 19: Du kriegst jetzt zur Strafe eine Spritze

Auch in dieser Episode in der Ich-Form geht es um Bestrafung durch eine Schwester der Lungenheilanstalt, diesmal durch Verabreichung einer Spritze. In seiner Angst ruft das Kind: „Mutter, Mutter, hilf mir!“ und fragt sich dann gleich: Was ist Mutter? Gibt es eine Mutter? Die Vernachlässigung durch die seltenen Besuche der Mutter ist so stark, dass das Personal dem Kind nach dem Besuch einer ihm fremden Frau sagen muss: Das war deine Mutter. Das Kind freut sich nachträglich, vor allem, weil die Mutter ihm ein Geschenk dagelassen hat. Das Kind versucht das Geschenk zu essen – offenbar ist Hunger in der Einrichtung an der Tagesordnung –, doch dies resultiert in enttäuschter Hoffnung: „Mutter ist bitter, glibschig, schaumig, kalt“, das schreibt sich in die körperliche Erinnerung ein, denn das Geschenk entpuppt sich als ein Stück Seife. „Beginnt eine Vergewaltigung nicht lange, bevor sie stattfindet?“

Episode 19: Du kriegst jetzt zur Strafe eine Spritze

Episode 18: Du warst nicht artig, hörst du

Die Episode in der Ich-Form spielt in der Lungenheilanstalt. Zur Strafe, weil er nicht artig war, wird der Junge von einer Schwester in einen Schrank gesperrt. In der absoluten Dunkelheit und Enge des Schranks erlebt er Todesangst: Hände und Unwesen scheinen nach ihm zu greifen und schwindelnde schwarze Kreise saugen ihn hinaus aus der Welt oder aus sich. Bereits in diesem frühen Lebensabschnitt findet also eine Dissoziation vom eigenen Körper statt.

Episode 18: Du warst nicht artig, hörst du

Episode 17: Fahrstühle

Diese Episode hat drei Teile. In Teil 1 wird in Ich-Form aus der Sicht des Kleinkindes beschrieben, wie es in den Sterbekeller der Lungenheilanstalt gebracht wurde, wo die Betten mit den verstorbenen Patienten weiß zugedeckt auf die Bestattung warten. Die Szene beschreibt die frühe Begegnung mit der Todesangst: das Kind fürchtet, entdeckt und durch die weiße Sterbedecke getötet, „totgedeckt“ zu werden. Teil 2 ist durch den Wechsel in die Pierre-Form markiert. Der ältere Pierre – ob als älteres Kind bzw. Jugendlicher oder Erwachsener ist nicht ganz klar – hat seine Mutter mit dem in Teil 1 beschriebenen Erlebnis konfrontiert. Die Mutter reproduziert jedoch das Muster, dass man Kindern ihre (Missbrauchs-) Erfahrungen nicht glaubt: Sie streitet ab, dass es einen solchen Sterbekeller überhaupt gegeben habe. Teil 3 wechselt wieder in die Ich-Form. Der Ich-Erzähler befindet sich in derselben psychiatrischen Klinik, die in Episode 1 bereits Schauplatz war. Grund ist, dass seine suizidale Tendenz ihn dazu gebracht hat, eine Überdosis Drogen zu nehmen. Die vielen weißen Betten in der Klinik rufen die Erinnerung an die frühkindliche Erfahrung mit dem Sterbekeller herauf. Die Betten erinnern ihn an ein weißes Schneefeld und wecken den Wunsch, viele Jahre unter dem Schnee zu schlafen. Im Gespräch mit dem Arzt äußert er, dass er bereits ein rundes Dutzend Selbstmordversuche unternommen habe. Sein Wunsch sei allerdings weniger der Tod, sondern eben ein viele Jahre langer Schlaf, um danach aufzuwachen, verbunden mit dem Wunsch, keinen Menschen mehr zu kennen, das Stigma des Kainszeichens nicht mehr zu tragen und neu gehen zu lernen. „Und was wollen Sie tun, wenn ich Sie hier entlasse?“, fragt der Arzt. „Schlafen“, antwortet der Erzähler. „Einfach nur schlafen.“

Episode 17: Fahrstühle

Episode 16: Sie haben mich oft mit Riemen

Diese Episode in Ich-Form schließt direkt an die vorhergehende an. Sie beschreibt, wie das Kind in der Pflegeeinrichtung wiederholt mit Lederriemen an sein Bett gefesselt wurde, weil es nicht artig gewesen sei. Der Ich-Erzähler beschreibt eine Halluzination, in der kleine, zungenartige Männchen aus seinen Ohren und seiner Nase kommen und ihm zurufen: „Du warst nicht artig!“ Vergeblich, denn er ist ja festgebunden, versucht er sie mit seinem Kopf zu zerdrücken und zum Schweigen zu bringen. Erst in die Nase gesteckte Steinchen bringen die Männchen zum Schweigen, aber der Erzähler hat das Gefühl, diese seien für immer in ihm geblieben und verwachsen. Dieses weitere Bild dafür, wie verinnerlicht das Schuldgefühl ist, betont die Dimension der Entfremdung (der Stein als buchstäblicher Fremd-Körper im Inneren) und der Ver-Steinerung, also der Dissoziation vom eigenen Körper.

Episode 16: Sie haben mich oft mit Riemen

Episode 15: Busse - Busse

Diese Episode ist eine Erinnerung des Ich-Erzählers an seine frühe Kindheit im Alter von zwei oder drei Jahren. Er befindet sich in einer Pflegeeinrichtung. (Dass es eine Lungenheilanstalt ist, wird hier nicht angesprochen, ist jedoch aus Episode 1 bekannt.) Dort wird er von „Frauen mit Macht“ beaufsichtigt, den Schwestern, bekommt aber anders als die anderen Kinder keinen Besuch. „Trauriges Gefühl von Gift in mir.“ Er sehnt sich nach Nähe, möchte wie die anderen Kinder umarmt und lieb gehabt werden. Deshalb klammert er sich an eine Schwester und bittet um einen Gutenachtkuss, doch die Schwester stößt ihn schroff zurück. Dieses Verstoßensein beschreibt er als „die Vertreibung aus dem Paradies in die Hölle der Schuld“. Der Erzähler mutmaßt, dass er hier erstmals in seinem Leben die Scham empfand, wie minderwertig, wie böse er sei, und fragt: „Kam so das Gift des Verschweigens in mein Leben? Beginnt eine Vergewaltigung nicht lange, bevor sie stattfindet?“ Tatsächlich liegt hier offenbar emotionale Gewalt durch Vernachlässigung vor, weil die Mutter das Kind nie besucht. Unter dem „Gift des Verschweigens“ kann man das Fehlen von (Ur-) Vertrauen und emotionaler Zuwendung sehen, das später das Kind 1. anfällig machen wird für die Zuwendung des Vergewaltigers und es 2. dem Kind unmöglich machen wird, im familiären Rahmen über den sexuellen Missbrauch zu sprechen. Diese Deutung des Erzähler-Ichs legt nahe, wie stark verinnerlicht das Schuldgefühl ist. Ob es wirklich aus dieser frühkindlichen Erfahrung oder aus der späteren Vergewaltigung herrührt: in jedem Fall prägt das Schuldgefühl seine Selbstwahrnehmung so stark, dass er sogar eine Lebensphase, die weit vor der Vergewaltigung lag, beim späteren Erinnern im Lichte dieses Schuldgefühls deutet.

Episode 15: Busse - Busse

Episode 14: (Auf der Wanderung)

Auf der Meta-Ebene gelangen Rübezahl und Pierre in die Mitte des Dorfes. Dort stehen auf einem großen Kreuz die Namen aller Heiligen der Welt eingraviert. Pierre erkennt sofort, dass drei Namen fehlen: Klabautermann, Neptun und Wotan. Dann führt Rübezahl Pierre in ein Haus, in dem Pierre heute Nacht schlafen werde, und bietet ihm zu essen eine Mischung aus einer zerdrückten Spinne und einem Vogelei an, die er mittels einer übernatürlichen Dehnung seiner Arme zubereitet. Dann verlässt Rübezahl das Haus, und Pierre begibt sich zum Schlafen auf den Dachboden. Weil er Angst vor Eindringlingen hat, sucht er nach einem schweren Gegenstand, den er auf die Bodenluke stellen kann. Dabei fällt sein Blick auf die Seemannskiste, die in Szene 1 als Bild für die verdrängten Erinnerungen eingeführt wurde. Die Meta-Ebene und die Ebene des Erinnerungsberichts berühren sich hier also explizit. Pierre legt sich schlafen und träumt, er sei wieder ein kleines Kind. Das Kind ist in Eisenketten gefesselt und wird von zwei Wächtern einen langen Weg entlang geschleppt – und zwar so lange, dass es in dieser Gefangenschaft zu einem jungen Mann heranwächst. In den beiden Wächtern kann man entweder den Stiefvater und den Vergewaltiger oder aber den Stiefvater und die Mutter sehen. In jedem Fall bringt das Bild zum Ausdruck, dass die Gewalterfahrungen des Kindes dessen Heranwachsen bestimmen.

Episode 14: (Auf der Wanderung)

Episode 13: Kann man ein Kind

„Kann man ein Kind nicht auf viele Arten vergewaltigen?“ In dieser wieder in der Ich-Form erzählten Episode geht es um Demütigung durch körperliche und emotionale Gewalt. Der Junge freut sich auf eine dreiwöchige Radtour mit einer Jugendgruppe. Nicht nur, weil er damit drei Wochen dem Zugriff des prügelnden Stiefvaters entzogen ist. Sondern auch, weil er ein Gefühl der Zugehörigkeit zu den gleichaltrigen Schulkameraden und des Selbstwerts verspürt, das er sonst kaum erlebt. Er hat etwas, das sie auch haben – den Wimpel „Geprüfter Radfahrer“ an seinem frisch geputzten Rad – und das er selbst erworben hat: „Ich kann was.“ Als der Stiefvater am Abfahrttag den Wimpel erblickt, sagt er: „Was soll das? Du kannst doch gar nicht Rad fahren. Der Wimpel kommt weg, sonst fährst du gar nicht erst mit.“ Er schlägt den Jungen und reißt den Wimpel ab. Wieder äußert sich die krasse Dualität der Realitäten: Das Kind kann ja in Wirklichkeit ganz offensichtlich Rad fahren, aber die „Wahrheit“ des Stiefvaters besteht darin, dass das Kind nichts wert ist und nichts kann, und er setzt dieses Dogma auch hier wieder mit Gewalt durch. Die Scham vor den Schulkameraden ist so groß, dass das Kind nur schweigen kann. Ein weiteres Beispiel für diese Demütigung durch körperliche und emotionale Gewalt, diesmal durch die Mutter, ist die zweite Szene. Das Kind ist beim Friseur, dieser schlägt ihm vor, statt des von der Mutter gewünschten Scheitels sich einen Pony schneiden zu lassen. Die Mutter bestraft das Kind für diese Eigenmächtigkeit durch extreme körperliche Gewalt, indem sie mehrere hölzerne Kochlöffel auf dem Gesäß des Kindes zerschlägt. Auf den Protest des Kindes, dazu habe sie kein Recht, antwortet sie: „Ich bin deine Mutter und habe immer das Recht, dich zu schlagen. Und wenn du zwei Meter groß wirst und ich auf einen Stuhl steigen muss, um dich zu ohrfeigen.“ Dann nimmt die Mutter das Kind mit zum Friseur, der auf Weisung der Mutter den Haarschnitt ändert. Auch in dieser Situation kann das Kind vor dem Friseur nur schweigen und dessen Blick ausweichen, weil seine Scham so groß ist.

Episode 13: Kann man ein Kind

Episode 12: Klopstockstraße

Auch in dieser Episode geht es um die Rolle des institutionellen Umfelds. Der 12-jährige Junge hat herausgefunden, dass sein Vater nur sein Stiefvater ist, dass das Kind nicht einmal adoptiert ist und dadurch auch den Namen des Stiefvaters gar nicht zu Recht trägt. Die Mutter hatte ihm dies verschwiegen. Erfahren hat es der Junge von seinem „einzigen Freund“, seinem Vergewaltiger. Damit eröffnet sich für den Jungen die Perspektive, sich vom Stiefvater zu befreien, dessen Gewalt nun als gesetzlich nicht mehr legitimiert erscheint. Der Junge ist daher auf der Suche nach der Dienststelle der Jugendfürsorge, die sich in der Klopstockstraße befinden soll. Er findet den zuständigen Amtsvormund und bittet darum, in einem Heim untergebracht zu werden. In Erinnerung bleibt ihm nur die enttäuschte Hoffnung durch die abschlägige Antwort der Sachbearbeiterin: „Bei euch daheim ist doch alles in Ordnung, dein Stiefvater hat Arbeit und er verdient gut. Ich habe mich um Wichtigeres zu kümmern.“ Wieder tritt – diesmal seitens der eigentlich zuständigen Behörde – der Fall auf, dass man Kindern ihre Missbrauchserfahrungen nicht glaubt bzw. diese nicht ernst nimmt.

Episode 12: Klopstockstraße

Episode 11: (Mühevoll zerrend)

Auf der Meta-Ebene wird beim Übergang zum nächsten Fenster die Frage gestellt: „Wo und wem aber sollten die Bilder etwas erzählen?“ Damit wird die Suche nach einer Form für die Bilder angesprochen. Das Ergebnis dieser Suche ist der Text „Das Kainszeichen“ selbst.

Episode 11: (Mühevoll zerrend)

Episode 10: Schule, so viele Schulen in seinem Leben

Auch in dieser Episode geht es um die Rolle des institutionellen Umfelds. Obwohl der erste Satz in der Er-Form steht, findet dann sofort ein Wechsel in die Ich-Form statt. Dieses „Schwanken“ der Erzählperspektive kann man als Symbol lesen für die Dissoziation vom eigenen Körper und die Abspaltung der Erinnerungen von sich. Die Szene selbst beschreibt den Fall, wenn man Kindern ihre Missbrauchserfahrungen nicht glaubt seitens des Umfeldes, und zwar anhand der Rolle von Kinderzeichnungen. Im Zeichenunterricht wird das Thema „Jonas im Walfisch“ gestellt. Nach der Stunde wird der Junge im Rektorat befragt, was er da gezeichnet habe. Es antwortet: „Der große Mann schlägt den Jungen auf seinen nackten Hintern … mit einem langen, langen Lederriemen.“ Warum kommt der Lederriemen aus der Hose des Mannes heraus, wird weiter gefragt. Das Kind hat in diesem Bild, das sowohl den Gürtel des Stiefvaters wie auch den Penis des Vergewaltigers darstellen kann, beide Arten von Gewalt erfasst, denen es ausgesetzt ist. Aber die Antwort auf die Frage will niemand hören, die Tabuisierung auch dieser (nicht nur der sexuellen) Gewalterfahrung setzt sich fort. Das Kind wird vom Schulpersonal ermahnt, nicht so schmutzige Sachen zu zeichnen. „Der Junge hat zu viel Fantasie“, sagt eine Lehrkraft.

Episode 10: Schule, so viele Schulen in seinem Leben

Episode 9: Schule - Lehrer

In dieser Episode geht es um die Rolle des institutionellen Umfelds. In der Ich-Form wird erzählt, wie ein Lehrer das Kind auf seine blauen Flecken anspricht. Das Kind fasst Vertrauen zum Lehrer und sagt: „Mein Vater ...“ Der Lehrer kündigt an, mit dem Vater zu reden, und kommt tatsächlich zu einem Hausbesuch. Das Kind hört vom Bett aus, wie Lehrer und Stiefvater miteinander reden. Der Stiefvater schildert dem Lehrer, wie schwierig und verlogen das Kind sei. Anschließend schlägt er das Kind und wirft ihm dabei vor, dem Lehrer Lügen erzählt zu haben. Dieser maximale Widerspruch – der Stiefvater bezeichnet den Bericht über seine Gewalt als Lüge, während er sie ausübt – ist symptomatisch für die Dualität der Realitäten in der Familie: „Wahrheit“ ist das, was die Erwachsenen vorschreiben (die „offizielle Wahrheit“ des familiären Systems), Wirklichkeit ist das, was mit dem Kind geschieht. „Enttäuschte Hoffnung, wo es nie wirklich Hoffnung gab“, erfährt das Kind am nächsten Tag in der Schule, weil der Lehrer sich auf die Seite des Vaters hat ziehen lassen: „Bist du nicht selber schuld, dass dein Vater dich so behandelt?“ Aus heutiger Sicht besonders verstörend erscheint es, dass der Lehrer dem Kind zwar glaubt, dass es Gewalt erfährt, er diese aber als legitimes Mittel der Erziehung einstuft. Für das Kind ist entscheidend: auch durch diese Enttäuschung verinnerlicht es das Schuldgefühl, das es auch im Kontext des sexuellen Missbrauchs erlebt. „Der einzige Mensch, dem ich vertraute: verloren. Und schuld war wieder ich.“ Diese Schuldgefühle entstehen – und das ist auch in heutigen Fällen aktuell – auch dann, wenn man Kindern ihre Missbrauchserfahrungen nicht glaubt.

Episode 9: Schule - Lehrer

Episode 8: (Sanft fast)

„Weitergehen! Niemals stehen bleiben!“, fordert Rübezahl Pierre auf der Meta-Ebene auf, sich nicht von seinen Erinnerungen überwältigen zu lassen. Doch der aufgewühlte Pierre bleibt bei einem weiteren Fenster stehen und die nächste Episode beginnt.

Episode 8: (Sanft fast)

Episode 7: Mein Magen drückt schmerzhaft

Die Leitmotiv-Frage nach dem Beginn der Vergewaltigung eröffnet nun eine Episode, in der es um die extreme körperliche Gewalt des Stiefvaters gegen das 12- oder 13-jährige Kind geht, das zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Jahre des sexuellen Missbrauchs hinter sich hat. (Auch hier ist die körperliche Erinnerung an den vor Angst schmerzenden Magen noch zum Zeitpunkt des Erzählens Jahrzehnte später vorhanden.) Das Erlebte führt zu einer Dissoziation vom eigenen Körper: „Doch ich bin nicht mehr in diesem Körper, Alter. Ich stehe neben dir und schaue zu, wie du auf diesen Körper, wie du auf dieses Kind einschlägst. … Du hast keine Macht mehr über mich, selbst wenn du mich jetzt totschlagen solltest.“ In seinen Rachefantasien wünscht sich das Kind ein Messer, um nur ein paar Sekunden seinen Hass gegen den Peiniger auszuleben. Dazu kommt es jedoch nicht. Das Kind resigniert und fühlt sich wie „das älteste Kind der Welt“. Es zeichnet sich ab, dass sein ganzes Leben von diesen Erfahrungen geprägt sein wird: „Wann endet die Geschichte einer Vergewaltigung?“

Episode 7: Mein Magen drückt schmerzhaft

Episode 6: (Ein ums andere Mal)

Die Meta-Ebene dient hier als Überleitung zwischen zwei Szenen. Pierre blickt immer wieder in Fenster, Rübezahl zieht ihn weiter. Als Pierre vor einem weiteren großen Fenster stehen bleibt, eröffnet dies den Blick in die nächste Erinnerungs-Szene.

Episode 6: (Ein ums andere Mal)

Episode 5: Diese Treppe

Diese Episode beginnt wieder mit der Leitmotiv-Frage, wo die Geschichte einer Vergewaltigung beginnt: „Beginnt die Geschichte einer Vergewaltigung wirklich mit der Vergewaltigung?“ Hier wird zunächst in der Pierre-Form berichtet, dass Pierre sich noch genau an die Stufen der Treppe in den Keller erinnern kann, in dem er jahrelang regelmäßig von einem älteren Nachbarsjungen vergewaltigt wurde. Dann erfolgt ein Wechsel in die Ich-Form. „Manchmal glaube ich, ich kann nicht vergessen, weil ich mich nicht an ihn erinnern kann.“ Wie der Vergewaltiger aussah, entzieht sich der Erinnerung, an der Stelle des Täters klafft ein Loch in der Erinnerung. Das Ich spekuliert darüber, ob ein Vergessen möglich werden könnte, wenn noch einmal eine Konfrontation mit dem Täter möglich wäre. Dann folgt eine Beschreibung der ersten Begegnung mit dem Vergewaltiger und des Beginns des Missbrauchs. Der Täter ist ein Schüler auf dem Gymnasium, etwa doppelt so alt wie sein achtjähriges Opfer. Er spricht das Kind an und zeigt ihm seine Modelleisenbahn. „War ich glücklich, weil jemand mit mir spielen wollte?“ Im Keller sei noch mehr von der Bahn. Dort kommt es zur ersten Vergewaltigung. Sie wird sich vier Jahre lang an jedem Werktag wiederholen, wenn die Erwachsenen außer Haus sind und die Gefahr der Entdeckung gering ist: „1000 Mal den Kellerboden schockhaft kalt am Bauch gespürt, 1000 Mal den Arsch hochgestreckt.“ Jede Erinnerung an die Ereignisse wirft das Ich wieder in diese Erfahrung zurück, die psychische Erschütterung lässt es glauben, wahnsinnig zu werden. „Doch diese Gnade bleibt mir verwehrt.“ Der Täter braucht es nicht oft zu sagen, das Kind spürt instinktiv die Tabuisierung: der Missbrauch muss geheim gehalten werden, sonst droht ihm der Tod. „Sexuelle Neugier? Nein. Nur Angst. Nur Schmerz.“ Das achtjährige Kind ist neu zugezogen in der Gegend und sozial isoliert, weil es von der Sonderschule kommt. Dies begünstigt eine starke emotionale Abhängigkeit vom Täter: Das Kind sieht den Vergewaltiger als seinen einzigen Freund, „der so schlimme Dinge mit mir tun musste, damit er mein Freund sein durfte“. Das erwachsene Ich, 20 oder 30 Jahre später, hat kaum andere Erinnerungen an diese Zeit seiner Kindheit. Die Erinnerungen kommen stets nur in Alpträumen, wobei das Zählen der Stufen der Kellertreppe immer wiederkehrt. Die Erfahrungen der Vergewaltigung führen zu einer extremen Verletzlichkeit. Der Ich-Erzähler berichtet, wie Alltägliches ihn in Panik und Abwehrhaltung versetzt, etwa der Atem einer anderen Person im Nacken – in einem Laden, im Zug oder im Fahrstuhl – sodass er am liebsten um sich schlagen möchte. Diese extreme Verletzlichkeit führt immer dazu, sich extrem beherrschen zu müssen, denn: „Niemand darf es merken.“ Der Erzähler resümiert, er sei „nie erwachsen geworden. Irgendwo in der Kindheit stehen geblieben.“ Die Beschreibung der Vergewaltigung endet damit, wie das Kind auf die Straße tritt und das Gefühl hat, jeder könne an einem Stigma auf seiner Stirn sehen, was es Schlechtes getan hat: „Seht das Kainszeichen auf seiner Stirn.“ Ab diesem Zeitpunkt verinnerlicht es das Schuldgefühl, für alles Schlimme verantwortlich zu sein, was – zum Beispiel in der von häuslicher Gewalt gegen das Kind geprägten Familie – passiert: „Es gab nichts, woran ich nicht schuld war auf dieser Welt. … „An diesem Tag machte ich mich auf die Flucht. Flucht durch das Leben und Flucht vor dem Leben.“ Die körperliche Erinnerung, speziell an den kalten Kellerboden, bleibt unauslöschlich.

Episode 5: Diese Treppe

Episode 4: Er wühlte im Bett

Zeitsprung: Pierre ist erwachsen und lebt mit einer Frau namens B. zusammen. Sie will, dass er wegen seines unruhigen Schlafs – er schreit, schlägt um sich und schwitzt extrem stark – einen Arzt aufsucht. Dieser tut Pierres Beschwerden damit ab, dieser sei eben „ein nervöser Typ“. In Wahrheit hat Pierre jede Nacht wiederkehrende Alpträume aufgrund seiner Missbrauchserfahrungen. Am Ende dieser Szene wird ihm klar, dass er noch nie jemandem von seinem „Geheimnis“ erzählt hat. Der von vielen Missbrauchsopfern empfundene Zwang zur Geheimhaltung, das (vermeintliche) Verschweigen-Müssen der als Stigma empfundenen Erfahrung wird hier auf den Punkt gebracht.

Episode 4: Er wühlte im Bett

Episode 3: (Pierre kämpft mit dem Buschwerk)

Die Titel der Szenen der „mythologischen“ oder „(Alp-) Traumebene“ des Textes sind zur leichteren Orientierung im Hörbuch und in dieser Übersicht eingeklammert. Auf dieser Ebene geht es in bildhaft chiffrierter Form darum, wie sich Pierre seinen eigenen verdrängten Erinnerungen wieder annähert (vgl. Szene 1: die Seemannskiste); wie er lernt, sich (ohne Schuldgefühle) zu glauben, dass ihm das Ungeheuerliche, Unaussprechliche wirklich passiert ist. Somit ist diese Erzählebene der Versuch des Erzählers, für sich ein Problem zu lösen, vor dem Missbrauchsopfer immer wieder stehen. Allgemeiner gesprochen, kann die Traumebene auch als eine Meta-Ebene verstanden werden, welche die therapeutische Verarbeitung der Traumata behandelt. Die Figuren sind Chiffren für innerpsychische Vorgänge. Pierre kämpft sich durch Buschwerk, jeder Zweig, der ihm ins Gesicht schlägt, rührt eine noch unklare Erinnerung auf. Etwas Kaltes ringelt sich um seinen Knöchel, er hält es für eine Giftschlange, die ihn töten wird. Später wird sich herausstellen, dass es sich um den Schlangenpenis seiner Mutter handelt (vgl. Episode 31). Die Todesangst gibt ihm die Kraft für einen baumhohen Sprung, der ihn von der Schlange befreit und ihm den Blick auf die Lichter eines Dorfes eröffnet. Es verheißt eine schützende Bleibe für die Nacht, doch wirken die Häuser beim Näherkommen zunehmend schemenhaft und irreal. Im Dorf begegnet Pierre ein Mann, dessen Statur und Stimme ihm seltsam vertraut verkommen, als sei er eine Art andere Version von ihm selbst, die alles über ihn weiß. Der Mann begrüßt Pierre wie selbstverständlich mit seinem Namen und fordert ihn auf, ihm zu folgen. „Mir ist es egal, wie du mich nennst, du weißt, wer ich bin. Für dich bin ich der Bürgermeister dieses Dorfes, wenn du magst, nenn mich Rübezahl. … Aber wenn diese Nacht vorüber ist, wirst du mich vergessen müssen. Aber wie kannst du vergessen, wenn du ihm keinen Namen gegeben hast?“ Auf Pierres Frage, ob die Häuser und Wege real seien, weil sie ihm so traumartig vorkommen, antwortet “Rübezahl“: „Es sind deine Wege, deine Häuser, deine Bilder. Du musst lernen, ihnen zu vertrauen, so schrecklich sie dir auch vorkommen mögen. Diese Bilder sind deine Wahrheit.“ Während sie sich den Häusern nähern, wächst in Pierre wieder die Unruhe. Pierre möchte in die Fenster schauen, obwohl Rübezahl ihn davon abzuhalten sucht: „Es ist nicht gut, wenn du stehen bleibst.“ Doch Pierre blickt trotzdem in eines der Fenster.

Episode 3: (Pierre kämpft mit dem Buschwerk)

Episode 2: Wieder einer dieser Tage

Der Text beschreibt Pierres innere Unruhe und Angst nach seiner Flucht. Er hält es nicht in seinem Zimmer aus, kann nicht allein sein. Er fühlt sich einer ungreifbaren Gefahr ausgeliefert, die aus seinem Inneren kommt. Deshalb begibt er sich nachts an öffentliche Orte, um unter Menschen zu sein, auch wenn er nicht mit ihnen sprechen kann. „Aber ihre Anwesenheit beschützte ihn, bewahrte ihn vor sich selber, bewahrte ihn davor, diese innere Gefahr ausbrechen zu lassen.“ Die Gefahr besteht darin, dass Pierre, bliebe er allein zu Hause, versuchen würde, sich mit einer Nadel oder einem Messer selbst zu verletzen. Die Selbstverletzung erscheint in der Szene als ein Verhaltensmuster mit suizidaler Tendenz, das Pierre schon an sich kennt, aber selbst nicht versteht: „Gerade genug Schmerz, um sich selbst zu fühlen und doch nicht zu sterben. … Vielleicht werde ich verbluten. Dann ist alles so, wie es sein sollte.“ Pierres fluchtartiges Gehen erinnert ihn an seine Schulzeit, als seine Schulkameraden ihn, das unbeliebte, unsportliche Kind regelmäßig verfolgt und verprügelt hatten. Seinem Stiefvater konnte er in jener Zeit zwar immer davonlaufen, aber da er letztlich immer wieder nach Hause zurückkehren musste, waren die sinnlosen Prügel des Stiefvaters immer nur aufgeschoben. Mit Bauchweh wartete Pierre auf das Nachhausekommen des Stiefvaters. „Oft hatte er sich in die waldkalte Nacht geflüchtet“, heißt es mit Bezug auf Pierres Flucht aus der elterlichen Wohnung. Damit kehrt der Text aus der Kindheitsrückblende wieder in die Gegenwart des rastlosen Gehens zurück, wo er sich plötzlich auf feuchtem Waldboden findet. Dies markiert den Übergang auf eine zweite dramaturgische Ebene des Textes, die sich in einer alptraumartigen Landschaft abspielt. Sie ist bevölkert von den Figuren einer Art tiefenpsychologischen Privatmythologie: Rübezahl, Klabautermann, Neptun und Wotan.

Episode 2: Wieder einer dieser Tage

Episode 1: Stundenlang saß er im Zug

Pierre spricht in einer therapeutischen Einrichtung mit dem Arzt. Die 30 weißen Betten erinnern ihn daran, dass er als Kleinkind in einer Lungenheilanstalt ins Sterbezimmer gelegt worden war (vgl. Episode 17). Die Frage danach, wo die Geschichte einer Vergewaltigung beginnt – sie zieht sich als Leitmotiv oder Refrain durch den ganzen Text –, führt zu einer Rückblende. Er erinnert sich daran, wie er mit dem Zug aus der Stadt seiner von Gewalt geprägten Kindheit geflohen ist. Er nimmt eine Abspaltung der Erinnerungen von sich vor und legt die Kindheitserinnerungen in eine imaginäre Seemannskiste, die er mit einem schweren Schloss verschließt und dann das Bild der Kiste in seiner Imagination mit einem großen Kreuz durchstreicht: „Kindheit hatte es für ihn nie gegeben.“

Episode 1: Stundenlang saß er im Zug